Zum Jahrestag, als in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 rund 800 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, und zum Gedenken an alle anderen ertrunkenen Flüchtlinge:
Wovor hat Europa Angst?
Wir
hatten das gleiche Schicksal. Wir sind alle Flüchtlinge, wir waren auf
der selben Fluchtstrecke unterwegs. Wir alle hatten einen Traum, die
selben Wünsche. Aber auf der Flucht spielt das Glück eine große Rolle.
Alle Flüchtlinge sind nicht erfolgreich. Viele sterben, bevor sie ihr
Ziel erreichen. Im Jahr 2011 sind über 400 Landsleute im Mittelmeer
ertrunken, 2013 mehr als 370 Eritreer, die auf einem Boot waren, und im
April letzten Jahres, in der Nacht vom 18. auf den 19. April kenterte
ein überladenes Flüchtlingsboot im Mittelmeer und etwa 800 Flüchtlinge
ertranken.
Das
Mittelmeer ist seit Jahrzehnten ein Menschengrab. Viele Träume und
viele Hoffnungen sind unter Wasser gegangen. Viele Familien verloren
ihre Geliebten, viele Kinder sind gestorben und viele junge Männer und
Frauen sind traumatisiert.
Flüchtlingsleichen
Ich
bin im Jahr 2002 über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Heute bin
ich Deutscher, als Deutsch-Eritreer fühle ich mich. Ich bin zum Glück
nicht verunglückt. Aber ich habe viele Freunde, Bekannte und Landsleute
verloren. Als ich vom größsten Flüchtlingsbootunglück vor einem Jahr
hörte, war ich gerade in Äthiopien. Ich war bei der Opposition und
machte Radio für Flüchtlinge in Addis Ababa. Der BBC hat darüber sehr
lange und den ganzen Tag berichtet Ich bekam sehr viele Medienanfragen
aus Deutschland. Obwohl ich viel zu sagen hatte, konnte ich nicht sofort
nach Deutschland fliegen. Aber die Nachricht hat mich sehr berührt.
Meine Erinnerungen kamen hoch. Heute möchte ich aus meinem Buch "
Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn" zitieren:
"
Ein stechender Geruch fährt mir in die Nase. Als ich die Augen
aufschlage, ist es hell und stinkt bestialisch. Braune Jauche wabert
unter uns, süßlich, sauer, gärig, es riecht nach Verwesung, so
schauderhaft, dass ich nur noch einen Gedanken habe. "Mit diesem Geruch
musst du jetzt sterben. " Ich denke nicht an Schmerzen, nicht ans
langsame Ertrinken, sondern rieche nur diesen unerträglichen Gestank,
den ich nicht abschütteln kann. Er drängt sich zwischen uns, saugt sich
fest, stößt in uns hinein. Ich fürchte mich, Angst, Todesangst, wie
lange noch, lange noch, noch? Es stinkt nach Tod. Die Angst vorm Sterben
hat einen Geruch, eine Farbe.Blaugrünbraun wie Erde, Luft und Wasser,
der Geruch ist ein Ton wie das Rauschen des Meeres. Dieser Gestank ist
ein Abschied: Morgen bin ich nicht mehr da.
.
Wo
bin ich? Wer bin ich? Schon tot? Meine Haut schneeweiß aufgequollen
unter der braunen Farbe, blutleer, meine Zunge trocken und schwer, ich
kann mich nicht bewegen. Kinder weinen. Aki, Robel und Awet neben mir,
ohne etwas zu sagen, blicken sie mit offenen Augen in die Weite. Wie
eine graue Decke hängt der Himmel über uns, es stürmt nicht mehr, regnet
noch leicht. " Land!", ruft da plötzlich jemand, und noch einmal:
"Land!" Automatisch drehen wir unsere Köpfe, schwer zu glauben nach
Trostlosigkeit, und doch: "Land steuerbord."
Malta
- Insel zwischen Libyen und Sizilien, näher an Sizilien als an Libyen.
Es ist ein dunkler Streifen am Horizont. Wir rufen und schreien,
Fischerboote, mindestens zwei oder drei, doch wenn sie in unsere Nähe
kommen, drehen sie ab. Obwohl Kapitäne gesetzlich dazu angehalten sind,
Menschen in Seenot zu retten, will uns niemand helfen, denn wer
Flüchtlinge in sein Boot aufnimmt, wird vor Gericht gestellt und
verliert mindestens seinen Gewerbeschein. Nicht einmal sehen will man
uns. Wovor hat Europa Angst?".
Zekarias Kebraeb